Gezielte Ignoranz ist in bestimmten Situationen nützlich, sagen Forscher.
Im Jahr 1961 kritisierte der renommierte deutsche Schriftsteller Günter Grass offen das kommunistische Ostdeutschland dafür, dass es die Berliner Mauer errichtet hatte, angeblich um zu verhindern, dass Westdeutsche in das Land eindringen. In Wirklichkeit war die Mauer jedoch effektiver darin, zu verhindern, dass Ostdeutsche desertierten.
Von da an wurde Grass, ein Westdeutscher, der häufig seine Nachbarn im Osten besuchte, von der ostdeutschen Geheimpolizei, der Stasi, beschattet. In ihren Notizen bezeichnet die Stasi Grass unter dem Codenamen "Bolzen". Als Deutschland im Jahr 1990 wiedervereinigt wurde, enthielt die Akte der Stasi über Bolzen über 1.200 Seiten.
Grass' Fall war zwar extrem, aber nicht einzigartig. 40 Jahre lang wurden in Ostdeutschland Wohnungen abgehört, Telefone abgehört und die Menschen ermutigt, Informationen über potenzielle Regierungsdissidenten zu melden. Heute sind die Stasi-Unterlagen, die über ganz Deutschland verteilt sind, so umfangreich, dass sie, wenn sie end-to-end gemessen werden, 111 Kilometer umfassen würden.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden diese Aufzeichnungen öffentlich gemacht. Die Regierungsführer gingen davon aus, dass die meisten Menschen in ehemaligem Ostdeutschland wissen wollten, ob eine Akte über sie existierte und, falls ja, sie lesen sollten. Es wurde allgemein angenommen, dass Wissen den Menschen helfen würde, ihre Lebensgeschichten zurückzugewinnen.
"Auf den ersten Blick scheint es viele gute Gründe zu geben, um das herauszufinden", sagt der kognitive Psychologe und Entscheidungswissenschaftler Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Dieses Gefühl entspricht der herkömmlichen Weisheit, dass Wissen tendenziell immer vorteilhaft oder wünschenswert ist, sagen Hertwig und andere. Aber das ist nicht das, was er und die Historikerin Dagmar Ellerbrock von der Technischen Universität Dresden in Deutschland gelernt haben.
Die Forscher fanden in einer unveröffentlichten Umfrage von über 2.300 Bewohnern des ehemaligen Ostdeutschlands heraus, dass mehr Menschen ihre Akten nicht gelesen haben als jene, die sie lesen. In einem neuen Artikel untersuchte das Team 134 ehemalige Ostdeutsche, die sich gegen das Lesen ihrer Akten entschieden hatten, um ihre Argumentation besser zu verstehen. Diese Umfrage und ausführliche Interviews mit weiteren 22 Teilnehmern ergaben, dass Menschen bewusst statt passiv Ignoranz wählten, berichteten die Wissenschaftler im Dezember in Cognition.
Diese Erkenntnis stimmt mit anderen Untersuchungen überein, die zeigen, dass bewusste Ignoranz bei bestimmten Angelegenheiten auch von Vorteil sein kann.
Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Gesellschaft von Grund auf neu erstellen, aber mit einem Haken. Sie wissen nichts über sich selbst wie Geschlecht, wirtschaftlichen Status, Nationalität, Bildungsniveau oder sogar Aussehen. Was ist, wenn Sie eine Patriarchie schaffen und herausfinden, dass Sie weiblich sind, oder Sie Einwanderung blockieren, nur um herauszufinden, dass Sie selbst ein Einwanderer sind? Der US-amerikanische Philosoph John Rawls hat dieses Gedankenexperiment in seinem Buch A Theory of Justice von 1971 entwickelt, um zu zeigen, wie eine Arbeit hinter einem "Schleier des Nichtwissens" zu einer gerechteren Gesellschaft führen könnte.
"Der Schleier des Nichtwissens ist die Idee, dass manchmal... Wissen uns ablenken oder beeinflussen kann", sagt Hertwig.
Dieses Gedankenexperiment hat sich auf verschiedene Weise im wirklichen Leben abgespielt. Zum Beispiel zeigten Ökonomen in einer wegweisenden Studie, wie die Schaffung eines Schleiers des Nichtwissens um Einstellungsentscheidungen menschliche Vorurteile überwinden kann. Das heißt, dass das Platzieren von Musikdirektoren hinter einem Schild - einem buchstäblichen Schleier des Nichtwissens - während Auditions dazu führte, dass wesentlich mehr Frauen einen Platz in Symphonieorchestern erhielten, wie Forscher im Jahr 2000 im American Economic Review berichteten.
In ähnlicher Weise wählten viele Ostdeutsche ihren eigenen Schleier des Nichtwissens, um sich selbst und andere zu schützen, deutet die Forschung von Hertwig und Ellerbrock an.
Eine Umfrage unter den 134 Personen, die sich dafür entschieden hatten, ihre Akten nicht zu sehen, ergab, dass mehr als 75 Prozent der Teilnehmer die Informationen als irrelevant betrachteten, weil die Vergangenheit nicht geändert werden konnte und somit nicht überprüft werden musste. Über die Hälfte sagte, sie wollten nicht wissen, ob ihre Informanten Kollegen, Familienmitglieder oder Freunde waren. Rund 30 Prozent der Befragten bezweifelten sogar, dass ihre Akten die Wahrheit widerspiegeln würden. Indem die Menschen dem Stasi-Anspruch auf ihre Geschichte widersprachen, entzogen sie dem Regime ihre Macht.
Das war offenbar auch die Haltung von Grass. "Diese Stasi-Akten waren wie ein Gift, weil sie als gültige Dokumente betrachtet wurden. Was sie sagten, musste wahr sein", sagte Grass einmal. "Die Menschen vertrauten den Aussagen und bedachten nicht, dass große Teile übertrieben oder sogar erfunden waren."
After the fall of East Germany, officially known as the German Democratic Republic, or GDR, people were given access to the files kept on them by the East German secret police, the Stasi. But many chose not to read them. Researchers surveyed 134 individuals to find out why, offering 15 reasons. Here are the top 10 listed by percentage of individuals who cited each one.
The findings enhance a growing body of work by psychologists to understand when and why people choose to seek knowledge or, conversely, to remain ignorant.
In a study posted in January 2020 in Nature Human Behaviour, researchers suggested that people consider three specific questions: How useful is the information? How will the information make me feel? And does the information gel with my world view?
Those questions can help explain people’s decisions not to view their Stasi files, says study coauthor and cognitive neuroscientist Tali Sharot of the University College London. For one, the information was no longer useful or relevant once the East German regime fell. And the information in the files had a high likelihood of containing information that would make people feel bad. Knowing, in other words, felt more harmful than not knowing.
Rob MacCoun, a psychologist and law professor at Stanford University, likens the decision to people deciding not to get genetic testing for diseases with no cure. “Both cases suggest that there are situations in which people intuit that learning something will lead them down a path they don’t want to walk. It is a kind of mental hygiene,” he says, “and maybe there’s some wisdom in that.”
For Sharot and many researchers studying deliberate ignorance, focusing on situations where ignorance represents a poor choice, rather than a worthy one, is the more pressing area of inquiry.
For instance, when people actively avoid information that might conflict with their view of the world, they can create dangerous echo chambers. “If someone is skeptical of climate change, they may not go out and seek information that suggests climate change is real,” Sharot says. But that ignorance imperils the health of the planet.
Research also shows that 10 percent of people who take an HIV test never come back for the results. Such individuals probably choose ignorance out of fear, but they also put others at risk of contracting the disease, Sharot says.
Tweaking the message, when it comes to medical information, overcomes people’s desire not to know, Sharot’s unpublished work suggests. She and her team wanted to see how to get more people to receive potentially scary information on their predisposition for certain genetic diseases.
One group of study participants was told that the additional information would help them take precautionary measures to ward off a given disease’s onset. Another group received a more neutral message. Those receiving the helpful message were more likely than others to overcome their fears and agree to receive such information.
Hertwig agrees this research is essential. But digging into instances where ignorance makes sense, and no change in behavior is needed, also has important implications, he says. The study of East Germans, for instance, provides clues about how societies handle periods of political upheaval. Across time, societies have had to grapple with how to move on from oppressive regimes. Should the leaders of a new regime make all former leaders and informants atone for their sins? Or should they mostly put the past behind them and move on?
“There is no simple answer to the question,” Hertwig says. What makes sense in one society may not make sense in another.
In the case of the Stasi files, people’s decision to ignore information en masse was a way of taking power away from their former tormentors, Hertwig says, allowing citizens in the reunified Germany to build a new and more peaceful future.
Our mission is to provide accurate, engaging news of science to the public. That mission has never been more important than it is today.
As a nonprofit news organization, we cannot do it without you.
Your support enables us to keep our content free and accessible to the next generation of scientists and engineers. Invest in quality science journalism by donating today.