Temple Grandin, Autism-Verfechterin: Neurodivergente Gehirne, Visuelles Denken.

03 November 2023 2984
Share Tweet

Sie wurde von Time magazine zur Heldin in der Liste der einflussreichsten Menschen der Welt ernannt. HBO hat einen mit dem Golden Globe ausgezeichneten Film über ihr Leben gemacht. Sie ist Autorin, Wissenschaftlerin, Professorin und Mentorin.

Temple Grandin hat kürzlich mit ADDitude ein offenes Gespräch darüber geführt, wie es war, in den 1950er und 1960er Jahren autistisch aufzuwachsen und wie die heutige Gesellschaft brillante, neurodivergente Geister entfachen und fördern kann.

F: Du sagst, dass du hauptsächlich in Bildern denkst. Du bist eine Objektvisualisiererin, während visuell-räumliche Denker in Mustern denken und sprachliche Denker sich an Wörtern erfreuen. Wie versagt unser Bildungssystem heute verschiedenen Denkern?

Bildungsexperten drängen auf Algebra, weil sie glauben, dass dies eine Voraussetzung für logisches Denken ist. Aber Algebra ist zu abstrakt für visuelle Denker, und es bereitet mir Sorgen, dass es dazu genutzt wird, die Objektvisualisierer auszusieben - und wir werden gebraucht.

Unsere Infrastruktur fällt auseinander, und es sind die Objektvisualisierer, die die Wassersysteme am Laufen halten werden. Wir entwerfen die Hydraulik, wir fangen mit dem Schweißen an, wir betrachten mechanische Dinge und sehen einfach, wie man sie zum Laufen bringt. Was Bildungsexperten nicht erkennen, ist, dass Objektvisualisierer nur eine andere Art der Problemlösung verwenden. Und wir müssen das mit mehr praktischem Lernen fördern.

F: Du bist ein großartiges Vorbild dafür, nicht nur deine Leidenschaft zu verfolgen, sondern auch durch praktische Arbeit Fähigkeiten in der Exekutivfunktion zu meistern. Welchen Rat würden Sie Eltern geben, die sich fragen, wie sie ihre Kinder am besten auf das echte Leben vorbereiten können?

Ich sehe viel zu oft, dass ein Kind die Diagnose Autismus, Legasthenie oder ADHS erhält und nicht in lebenspraktischen Fähigkeiten wie Geldverwaltung oder Einkaufen unterrichtet wird. Bei kleinen Kindern bedeutet das Erlernen von Lebensfähigkeiten, den Wecker zu stellen und die Kleidung am Abend vorher herauszulegen. Das wurde mir von klein auf eingebläut. Ich hatte nie ein Problem damit, pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Du fängst mit Hausarbeiten an, dann mit ehrenamtlicher Arbeit in einer Kirche oder einem Pflegeheim. Ein erster bezahlter Job könnte darin bestehen, jeden Morgen mit dem Hund des Nachbarn spazieren zu gehen. Du musst zu Herrn Jones nach Hause kommen und dem Hund einen 15-minütigen Spaziergang geben. So lernst du, eine Aufgabe nach einem Zeitplan zu erledigen, bei dem jemand außerhalb der Familie dein Chef ist.

F: Haben Sie kluge Worte für Eltern, deren Herzen brechen, wenn ihre neurodivergenten Kinder in der Schule gemobbt, abgelehnt oder ausgegrenzt werden?

Die High School war der schlimmste Teil meines Lebens. Ich wurde gemobbt und gehänselt, und darüber habe ich in meinem Buch "Was denkst du in Bildern: Mein Leben mit Autismus" (#CommissionsEarned) gesprochen. Ich habe Freunde durch geteilte Interessen und Aktivitäten gefunden: Reiten in der High School, Modellraketenclub und Elektronik. Für ein anderes Kind könnte es die Band oder ein Schulstück sein. Eine findige Lehrerin hat für ihren autistischen Schüler einen Star Wars Club gegründet, und durch das hat er Freunde gefunden.

F: Wie können wir neurodivergenten jungen Menschen dabei helfen, ihr Selbstvertrauen aufzubauen, ihre Talente zu erkennen und ihren Interessen nachzugehen?

Wir konzentrieren uns zu sehr auf die Defizite und zu wenig darauf, die Stärken aufzubauen, die sich zu einer wirklich guten Karriere entwickeln könnten. Als ich ein kleines Kind war, habe ich Stunden damit verbracht, kleine Fallschirme und Drachen zu bauen und herumzuexperimentieren, um sie zum besseren Fliegen zu bringen. Kinder tüfteln heute nicht mehr herum, und besonders für Objektvisualisierer ist Tüfteln eine kraftvolle Möglichkeit, Stärken zu erkunden.

Ich bin Wissenschaftlerin, Spezialistin für Tierverhalten. Ich entwerfe Ausrüstung für Nutztiere. Es ist interessant und wirklich lohnenswert gewesen. Autismus ist ein wichtiger Teil meiner Identität, aber Wissenschaftlerin, Erfinderin und Problemlöserin zu sein, ist meine primäre Identität.

Anni Layne Rodgers ist Geschäftsführerin von ADDitude.

25 JAHRE ADDITUDE FEIERN Seit 1998 setzt sich ADDitude dafür ein, ADS/AHDS-Bildung und -Unterstützung durch Webinare, Newsletter, Community-Engagement und sein bahnbrechendes Magazin anzubieten. Um die Mission von ADDitude zu unterstützen, erwägen Sie bitte ein Abonnement. Ihre Leserschaft und Unterstützung helfen dabei, unseren Inhalt und unsere Reichweite möglich zu machen. Vielen Dank.


ZUGEHÖRIGE ARTIKEL