Physiker entdecken eine verworfene Theorie wieder, um ein Rätsel zu lösen, wie Glas Schall dämpft.

04 Juli 2023 610
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4. Juli 2023

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von der Universität Konstanz

Physiker rätseln seit etwa einem halben Jahrhundert über Vibrationen in Glas bei niedrigen Temperaturen. Der Grund: Glas trägt Schallwellen und Vibrationen anders als andere Feststoffe - es 'vibriert anders'. Aber warum? Und wie kann die Ausbreitung von Schall in Glas korrekt berechnet werden?

Zwei Physiker der Universität Konstanz, Matthias Fuchs und Florian Vogel, haben nun die Lösung gefunden, indem sie ein altes Modell aufgreifen, das vor etwa 20 Jahren erstellt und damals von Experten abgelehnt wurde, und es überarbeiten. Ihre neue Sichtweise auf die alte Theorie wurde nun im Journal Physical Review Letters veröffentlicht.

Wenn man Schallwellen durch Glas schickt und sie sehr genau misst, bemerkt man eine bestimmte Dämpfung der Vibrationen, die in anderen Feststoffen nicht vorhanden ist. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die thermischen Eigenschaften von Glas, wie Wärmeübertragung und Wärmekapazitäten. Der Effekt ist in der Physik bekannt, aber bisher gab es kein theoretisches Modell, das ihn korrekt beschreiben konnte - und das als Rahmen für komplexere Berechnungen der Schallausbreitung in Glas dienen könnte.

Gläser sind ungeordnete Feststoffe. Im Gegensatz zu kristallinen Feststoffen sind die Teilchen, aus denen Glas besteht, nicht regelmäßig angeordnet. In den meisten Feststoffen sitzen die Teilchen nahezu perfekt 'ausgerichtet', wie Bausteine in einem präzisen Gitter angeordnet. Wenn in solchen kristallinen Feststoffen bei niedrigen Temperaturen eine wellenartige Vibration angeregt wird, geben die Teilchen die Vibration an ihre Nachbarn weiter, ohne gedämpft zu werden. Die Vibration läuft in einer gleichmäßigen Welle ohne Verluste ab, vergleichbar mit einer La-Ola-Welle in einem Stadion.

Nicht so beim Glas. Seine Teilchen sind nicht in einem regelmäßigen Gitter angeordnet, sondern haben zufällige Positionen ohne strenge Ordnung. Aufkommende Schwingungswellen werden nicht in einem einheitlichen Muster fortgesetzt. Stattdessen gelangen die Vibrationen an die zufälligen Positionen der Teilchen und werden in einem entsprechend zufälligen Muster weitergeführt.

Das Ergebnis ist, dass die gleichmäßige Welle unterbrochen wird und sich in mehrere kleinere Wellen auflöst. Dieser Disper­sions­effekt führt zur Dämpfung. Der Physiker Lord Rayleigh verwendete diesen Mechanismus der Lichtstreuung durch Unregelmäßigkeiten in der Atmosphäre, um die blaue Farbe des Himmels zu erklären, weshalb dieser Effekt 'Rayleigh-Dämpfung' genannt wird.

Vor etwa 20 Jahren beschrieben die Physiker Marc Mézard, Giorgio Parisi (Nobelpreis für Physik 2021), Anthony Zee und ihre Kollegen diese Anomalien in Glas mit einem Modell von Schwingungen an zufälligen Positionen, das als 'Euclidian random matrix approach' (ERM) bekannt ist. 'Ein einfaches Modell, das im Grunde genommen die Lösung darstellte', sagt Matthias Fuchs, Professor für theoretische weiche kondensierte Materie an der Universität Konstanz. Das Modell hatte jedoch noch einige Inkonsistenzen und wurde daher von Experten verworfen und geriet in Vergessenheit.

Matthias Fuchs und sein Kollege Florian Vogel griffen das alte Modell wieder auf. Sie fanden Lösungen zu den offenen Fragen, die die wissenschaftliche Gemeinschaft damals nicht beantworten konnte, und überprüften das überarbeitete Modell, indem sie sich seine Feynman-Diagramme ansahen. Diese nützlichen Diagramme wurden von Richard Feynman in der Quantenfeldtheorie eingeführt und zeigten die Regelmäßigkeiten in den Mustern der gestreuten Wellen.

Die Ergebnisse von Matthias Fuchs und Florian Vogel lieferten lebensnahe Berechnungen der Schallausbreitung und des Dämpfungseffekts in Glas. 'Mezard, Parisi und Zee hatten mit ihrem einfallsreichen Modell recht - harmonische Schwingungen in einer ungeordneten Anordnung erklären die Anomalien von Glas bei niedrigen Temperaturen', erklärt Fuchs.

Das wiederentdeckte Modell ist jedoch noch lange nicht das Ende der Geschichte. 'Für uns ist es der Ausgangspunkt: Wir haben das richtige Modell gefunden, das wir jetzt für weitere Berechnungen verwenden können, insbesondere für quantenmechanische Effekte', sagt Matthias Fuchs. 'Gute Schwingungen' für die Forschung.

Journal-Information: Physical Review Letters

Bereitgestellt von: Universität Konstanz


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